2021 - Grenzwertig

Wer versucht sich denn da abzuseilen?
Wer versucht sich denn da abzuseilen?

Es ist nicht zu glauben, schon wieder will einer unerlaubt aus der Reihe tanzen. Immer diese Gier nach mehr Leben. Wo kommen wir dahin, wenn sich ein jeder immer stets die Freiheiten heraus nehmen würde, die ihm gerade in den Kram passen.

Das pure Chaos würde gar daraus erwachsen. So etwas, kann doch nicht normal sein!

Dann am Besten die Schere hernehmen und rigoros den Kerl zurecht stutzen. Dies wird ihn lehren sich das nächste Mal an die Regeln zu halten.

 

 Also nicht lange gefackelt, die Lunte will brennen!

 

Aber dieses junge aufstrebende Leben, wie es mir da so keck entgegen blickt, wie es so ganz selbstverständlich Raum für sich beansprucht. Dabei kann es sich noch gar nicht selbst ernähren, und besitzt bislang gar keine Wurzeln. Es ist voll und ganz abhängig von den Großen.

 

 

Vorsichtig nehme ich das kleine Erdbeer-Jungpflänzchen in die Hand.

Die Mutterpflanze hat es ausgeschickt, damit es sie nach und nach ein Stück weiter bringen kann. Pflanzen haben keine Beine, mit denen sie sich von einem Ort fortbewegen können. Aber einige Pflanzen sind in der Lage sich sozusagen zu klonen und dann diese Winzlinge einige Zentimeter neben ihrem Standort neu erstehen zu lassen. In einem Sommer können das durchaus mal bis zu zwei oder drei Meter werden. So erobern sie nach und nach mehr Raum für sich. Selbst ein Zaun hält sie nicht davon ab, den Weg in die neue Freiheit zu finden.

 

Zuerst streckt der Neuankömmling seine grünen Blätter aus, um Licht einzusammeln. Wasser und Mineralstoffe erhält es von der großen Pflanze, ähnlich wie ein Baby im Mutterleib ernährt wird. Die beiden stimmen sich untereinander ab. Sie fühlen und hören einander, und gehen äußerst achtsam miteinander um.

 

Dann tastet der Kleine sich vorsichtig am unteren Ende heraus und bildet Haftfüsschen aus. Denn er braucht erst mal etwas Standfestigkeit. Es ist wichtig einen festen Stand zu haben, zu wissen wo man hingehört und, dass man dort in aller Ruhe sich entwickeln kann. Dafür sind Eltern äußerst relevant!

Würde die Mutterpflanze ganz plötzlich den Saft abdrehen oder ein Tier beißt diese Verbindung durch, dann würde dies in diesem Stadium das Ende für den Kleinen bedeuten. Und ist es wirklich so falsch, dass dieser Winzling eine kleine Welt für sich erobern will?

 

Und mit der Zeit braucht der Kleine einfach etwas mehr Raum. Leben will gelebt werden. Es braucht nur wenig, um sich selbst zu spüren, und um gar diese Lebensfreude weiter zu geben.

 

Wenn ein Lebewesen Eltern hat, kann es sich erlauben, zuerst nach den Sternen, dem Sonnenlicht, zu greifen. Und dieses Licht kommt zielgerichtet auf der Erde an. Es wurde von einem Energie erzeugenden System erschaffen – eine chaotische Kollision von Wasserstoffatomen, die miteinander verschmelzen. Und diese neue Kraft hat der Stern erst einmal für sehr, sehr lange Zeit in seinem Inneren Gefängnis behalten, bis er es dann am Ende in Form von Licht in die Welt hinaus geschickt hat.

Täte eine Sonne das nicht, würde sie übrigens viel zu schnell ausbrennen und statt Leben zu bringen, würde sie es beenden!

Wenn das Licht schließlich zu uns auf die Erde kommt, trifft es auf die unterschiedlichsten Oberflächen. Ein Teil der Energie wird dort entnommen, der Rest sozusagen zurück geschickt. Man könnte fast sagen, dass im Licht nun das pure Chaos ausbricht, welches wir Menschen dann als buntes Farbenmeer sehen können. Wäre das nicht so, dann leuchtete alles in einer einzige Farbe. Es gäbe keine Kontraste, keine Schatten und unsere Augen wären zur Orientierung unnütz.

Ein Lebewesen dagegen, welches ohne diesen elterlichen Schutz aufwachsen muss, ist wie ein Samenkorn, das erst einmal lernen muss Dunkelheit und Einsamkeit auszuhalten. Die Hülle, die es einst geschützt hat, muss es gewaltsam aufbrechen und sich dann im Boden blind verankern. Und wen es dafür nicht die Kraft hat, dann wird es sinnlos sterben.

Im nächsten Schritt geht es darum, an Wasser – das Elixier des Lebens - zu gelangen. Und es muss sauberes Wasser sein, denn sonst schwächelt die Pflanze, wird krank und muss viel zu früh sterben!

Und erst, wenn sie das alles so weit vorbereitet hat, können wir ihre Flügel beobachten, wie sie diese Grün aus der Erde streckt, um sich vom Licht zu nähren und Chaos in Form von Farben und Schatten zu erzeugen.

 

Und, mit welchem System würden Sie ihr Leben beschreiben? Würden Sie sich nicht vielleicht wünschen lieber ein solches Erdbeer-Jungpflänzchen zu sein, dass sich mutig versucht abzusetzen?!

Wäre es nicht schön, wenn wir alle dieser behütete Sprößling sein dürften?

 

 

Es braucht nur ein wenig mehr Wir-Gefühl. Den anderen erspüren, ohne ihn dafür unbedingt sehen oder zu dicht aufsitzen zu müssen. Mal braucht es ein Chaos, das Unruhe bringt oder ausbrechen will, mal Zurückhaltung, die in manchen Zeiten einem Gefängnis durchaus gleich kommen kann, und mal Freigiebigkeit und Freiraum für Möglichkeiten.

 

August 2021, Andrea Dejon