Alles nur eine Sache der Perspektive

Vor unendlich vielen Sonnenumläufen – ihr Menschen würdet sagen vor mehreren Tausenden von Jahren – waren die großen Viehherden dafür verantwortlich, dass die Wälder immer schön luftig blieben. Überall gab es Lichtungen, die erst die große Artenvielfalt an Lebewesen ermöglichten. Die großen, Pflanzen fressenden Tiere sorgten dafür, dass die Bäume nicht überhand nehmen konnten, denn das Gleichgewicht der Kräfte sollte immer gewahrt bleiben.

In jenen Tagen war der Mensch ebenfalls gerne in diesen sonnendurchfluteten Wäldern unterwegs. Alles war noch ein großes Netzwerk, in dem jeder den andern zu schätzen wusste – ganz ohne Vorurteile und Einteilungen in: das ist gut und das ist böse.

Aber irgendwann änderte sich das. Manchmal glaube ich, ein Virus muss Euch Menschen infiziert und blind gemacht haben. Denn der sorgsame Umgang mit Ressourcen änderte sich, Ihr wurdet regelrecht unersättlich. Bald schon gab es keine Bison- oder Rinderherden mehr, keine großen Gemeinschaften aus Rehen und Rotwild, die viele der kleinen Bäumchen auffraßen, die die Lichtung hätten verdunkeln können.

So veränderten sich die Wälder. Sie wurden dunkler und finsterer, und da Ihr Menschen anscheinend Angst vor der Dunkelheit habt, hattet Ihr Euch nach und nach nicht mehr tief in die Wälder hinein gewagt. Stattdessen entstanden Gruselgeschichten über finstere Mächte, die dort wohnen würden. Die Zeit des Bösen war herein gebrochen. Und dieses Böse musste vernichtet werden.

Also übergab Mutter Natur meinem Stamm die Aufgabe dafür zu sorgen, dass wieder mehr Licht in den Wald kommen sollte. Wenn das Großwild fehlte, dass die Bäume klein hielt, musste ein sehr kleines Tierchen nun diese große, fast schon riesige Aufgabe übernehmen.

Eine Aufgabe, die zu einer recht schweren Bürde im Laufe der Jahre für uns wurde!

Aber dennoch, wir waren sehr fleißig, kann ich nur sagen. Meine Vorfahren gaben alles. Wir Männchen nagten Gänge unter die Rinde, um dort ein kleines Dorf für unsere Familien zu errichten. Und der Pilz, den wir als Saatgut mitgebracht hatten, ermöglichte es den Baum schließlich zum Abschied nehmen zu bewegen. Nach und nach wurde es wieder heller im Wald und der Mensch wagte sich ebenfalls wieder hinein. Aber die Beziehung zu den Bäumen hatte sich geändert.

Ein Baum war nicht mehr Teil eines großen WIR, sondern nur noch einfaches, aber wichtiges Baumaterial – und heute? Da sind die Bäume noch viel weniger. Sie sind nur noch Dekoartikel für das Innere Eurer Behausungen. Dekoartikel, die ständig ausgetauscht werden müssen, weil sie sonst zu langweilig werden. Etwas, was für meinen Stamm vollkommen unverständlich ist.

Wie kann man einen Baum töten, nur um etwas daraus zu machen, dass gleich wieder entsorgt und verbrannt wird? Und das in so großen Massen, dass der Lebensraum von so vielen Lebewesen bedroht ist. Sogar der von Euch Menschen selbst!

Wenn wir los legen, achten wir zumindest darauf, nur die schwachen Bäume zu nehmen. Gut, in den letzten Jahren hat mein Stamm sich etwas stärker vermehrt - bei den schlechten Umweltbedingungen unter denen so manche Baumgemeinschaft zu leben hatte - kein Wunder. Die Bäume fanden es unerträglich ein solches Schattendasein zu fristen. Sie hatten meinen Stamm förmlich angefleht, hier etwas zu ändern. Wir sollten einen Neuanfang schaffen, bei dem alle Lebewesen wieder von Grund auf lernen sich wieder in einem Netzwerk als ein Wir zu fühlen.

Also haben wir getan, was ein Borkenkäfer tun muss. Und, wenn der Gegenspieler fehlt, kann es durchaus auch mal vorkommen, dass die Gier nach mehr zu einer durchschlagenden Kraft wird.

Die vielen Pestizide und Monokulturen im Wald, schwächen die Bäume. Einen durch und durch starken Baum, der in gesunder Gemeinschaft mit anderen Lebewesen lebt, bei dem könnte keiner aus unserer Familie auch nur einen Tunneleingang rein knabbern.

Ganz im Gegensatz zu Euch! Ihr sucht die besten Exemplare heraus und vernichtet sie aus purem Egoismus heraus. Doch, wenn wir uns dann an unsere Arbeit machen, kommt die große Eifersucht hoch. Keinen Baum gönnt Ihr uns, und dass obwohl wir uns im Gegensatz zu Euch Menschen an unsren Auftrag halten, den Mutter Natur uns erteilt hat.

Und in der heutigen Zeit, da das Gleichgewicht im Netzwerk immer mehr in Schieflage gerät, wäre es zudem sehr wichtig, wenn wir unsere Arbeit tun dürften. Zusammen mit den anderen Wiesenhelden. Gemeinsam könnten wir dafür Sorgen, dass der Wald wieder das wird, was er sein sollte. Die große atmende Lunge des Planeten, der mit seinen sonnigen Plätzen zu einer überaus positiv gestimmten Kraft wird, die ein zufriedenes Lächeln in Eure Gesichter zu zaubern vermag.

Doch das geht nur, wenn wir alle in Ruhe unsere Arbeit machen dürfen – auch, wenn Ihr das große Ganze dahinter nicht sehen könnt. Es ist da! Und die Zeit ist mehr als überreif dafür. Es muss sich etwas ändern, so kann es nicht weitergehen. Ihr arbeitet ja nur daran, alles noch tiefer in den Abgrund hinein zu treiben!

Also, was spricht denn gegen eine Chance für einen wirklichen Neuanfang?

Euer Bernhard Burri

Borkenkäfer